Pandemie trifft Familien mit Suchtproblemen besonders

In der Corona-Pandemie haben mehr suchtkranke Menschen im Kreis zu Alkohol gegriffen, um die psychischen Belastungen zu mildern. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Gesundheitsexperten aus dem Kreis bei einer Anfrage unserer Zeitung.

„Einige unserer Patienten haben mir gesagt, dass sie es nicht mehr alleine in ihren Wohnungen ausgehalten haben“, sagt Chefärztin Heike Hinz von den Median Kliniken Wigbertshöhe in Bad Hersfeld und Richelsdorf. Um den Druck zu betäuben, griffen die bereits „trockenen“ Alkoholiker wieder zur Flasche.

Wie viele Menschen aus dem Kreis Hersfeld-Rotenburg jedoch so sehr unter Homeoffice und Kurzarbeit litten, dass sie in die Alkoholabhängigkeit abrutschten, sei derzeit noch nicht mit Zahlen zu belegen, erklärt die Diplom-Psychologin. „Das mit den Anträgen geht jetzt erst wieder langsam los.“

Alkoholiker hätten während der Pandemie in Quarantäne und Abstandsregeln zahlreiche Ausreden gefunden, um sich keine Hilfe holen zu müssen, fügt Ursula Heun vom Freundeskreis Rotenburg hinzu. Die ehemalige Erste Vorsitzende des Selbsthilfevereins und heutige Kassiererin weiß aus eigener Erfahrung: „Es dauert, bis sich Betroffene Hilfe suchen.“ In der vereinseigenen Gruppe sei seit der Pandemie jedoch kein Mitglied rückfällig geworden, und kein neuer Hilfesuchender dazugekommen, sagt Heun. Viele hätten ihren Halt in der Familie gefunden, nur wenige litten unter mangelnden Kontakten.

„Fast zwei Jahre Corona-Pandemie gehen an niemanden spurlos vorbei“, sagt Chefärztin Beate Hahne von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Hersfeld-Rotenburg. Der individuell empfundene Stress während der Pandemie habe allerdings zugenommen.

Auch der Wegfall sozialer Kontrolle, zum Beispiel durch die Familie, sei ein Faktor für mehr Alkoholkonsum während der Pandemie, erklärt Andrea Budde, Ärztliche Direktorin in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld. „Denn dann bewertet niemand, wie viel eine Person trinkt.“

So viel Alkohol ist noch ungefährlich
Ein risikoarmer Alkoholkonsum liegt laut Andrea Budde, der Ärztlichen Direktorin in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld, dann vor, wenn eine bestimmte Grammmenge pro Tag nicht überschritten wird. Eine risikoarme Dosis liegt dann vor, wenn Frauen nicht mehr als 12 g und Männer mehr als 24 g reinen Alkohol täglich konsumieren. Das entspricht ungefähr 0,5 Liter Bier (20 g Alkohol). An mindestens zwei Tagen pro Woche sollte gar kein Alkohol getrunken werden.

 

Alkohol, Zocken und Corona-Frust

 Die Pandemie hat in Familien mit Suchtproblemen für zusätzliche Belastungen gesorgt, einige Eltern griffen daraufhin regelmäßig zur Flasche. Doch nicht nur manche Eltern, auch einige Kinder und Jugendliche im Landkreis leiden seit der Pandemie an einer oder mehrerer Suchtkrankheiten, unter anderem Mediensucht..
„Zur Gruppe der Betroffenen gehören Kinder aller Schichten“, erklärt Christina Heimeroth, von der Fachstelle für Suchtprävention bei der Diakonie im Landkreis. Heimeroth kümmert sich in der Fachstelle um das Programm „Klick it“ und will Jugendliche nicht nur für die Gefahren im Netz sensibilisieren, sondern auch vor der übermäßigen Nutzung der Geräte selbst warnen.
Die seit 17 Jahren in der Fachstelle für Suchtprävention tätige Sozialarbeiterin sieht einen alarmierenden Trend seit Beginn der Pandemie: Kinder beschäftigen sich auch im Kreis häufig mit ihren Handys, Tablets und Co. „Jetzt kommen die ersten Eltern zu mir und sagen: Ich weiß nicht, wie ich meinen Sohn vom Handy wegbekommen soll, der hat ein Suchtproblem.“
Für Härtefälle bieten Heimeroth und ihr Kollege, Sozialpädagoge Jan Malachowski, spezielle Kurse an. Der erste fand kurz vor den Sommerferien statt. „Dabei ging es darum, dass die Kinder die reale Welt wieder erfahren und diese wieder erlebbar wird“, sagt Heimeroth. Dass die Teilnehmer des Sommerkurses aus sozial schwachen Familien kamen, sei jedoch Zufall gewesen, erklärt Heimeroth. Der problematische Medienkonsum könne nicht pauschal auf diese Gruppe beschränkt werden. „Das kann einem Kind aus einer sozial starken Familie genauso passieren,“ sagt sie.
Besonders groß sei die Gefahr für Kinder mit suchtkranken Eltern, in der Pandemie von Fernseher, Handy und Computerspielen abhängig zu werden, erklärt Anke Bartels-Macht von der Drogenhilfe Nordhessen mit Standort in Rotenburg. „Die Eltern lesen teilweise keine Bücher, es fehlt eine gute Bildung und die Kinder greifen dann aus Langeweile eher zu Computer und Fernsehen“, sagt die Mitarbeiterin von der Sozialpädagogischen Familienhilfe Sucht.
Um Kinder aus betroffenen Familien trotzdem zum Lesen zu bewegen, verschenkte Bartels-Macht Bücher. Und wer ein Buch gelesen hatte, der bekam eine Belohnung – es ging raus ins Grüne. „Ausflüge sollen den Kindern zeigen, was es außerhalb der digitalen Medien zu entdecken gibt“, sagt die Expertin. Dann muss Bartels-Macht noch etwas Wichtiges loswerden: „Man sollte jedoch nie die Eltern der betroffenen Kinder in eine Negativecke stellen“, sagt die Mitarbeiterin der Drogenhilfe Nordhessen. „Es ist ja nicht so, dass die ihren Kindern nicht helfen wollen, sie sind einfach überfordert.“
Mit Homeschooling, wechselnden Abstands- und Quarantäneregeln und immer neuen Impfempfehlungen seien Familien mit Suchtproblemen oft überlastet. „Da waren viele Familien sehr dankbar, dass wir während der Pandemie weiter zu ihnen gekommen sind“, sagt Bartels-Macht. Besonders pandemiebedingt geschlossene Behörden und die Abwicklung von Dokumenten über den Postweg oder digital, habe viele Familien überfordert.
„Was mich überrascht hat, ist, dass viele Familie trotz ihrer Suchtprobleme so gut durch die Krise gekommen sind“, fügt Mareike Zielke, Leiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) des Landkreises hinzu. Zielke hat eine positive Beobachtung in der Coronazeit gemacht: „Weil viele Anforderungen weggefallen sind, waren einige Familien entspannter“, erklärt sie. Ohne Präsenzunterricht mussten unter anderem keine Busabfahrtszeiten eingehalten werden oder Anträge für Schulkostenübernahmen gestellt werden. „Als die Schule wieder losging, kam der Stress zurück“, sagt Zielke. Allerdings ließen sich positive wie negative Beobachtungen nicht pauschalisieren, betont die ASD-Mitarbeiterin. „Es gibt sie nicht, die eine Suchtfamilie“, fügt sie hinzu.
Die einen hätten die Pandemie zwar gut überstanden, andere Familien, die bereits vor der Pandemie mit Suchtproblemen kämpften, seien jedoch abgerutscht. „Eltern die schon vorher süchtig waren, haben teilweise wieder auf Alkohol und Drogen zurückgegriffen“, sagt Zielke.
Ihre Sorgen und Probleme ertränkten jedoch nicht nur Erwachsene in Alkohol. Der erhöhte Alkoholkonsum, bis hin zur Sucht, traf auch Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15-25 Jahren, fügt Regine Möhn, Koordinatorin des Projektes „Startpunkt“ in Rotenburg hinzu. „Die Isolation und die fehlenden Kontakte in der Pandemie haben dazu geführt, dass viele von ‘Frustsaufen’ berichten“, sagt Möhn vom Projekt des Bildungswerks der nordhessischen Wirtschaft und des Kreises. Die Pandemie habe besonders die Jugendlichen mit bereits bestehenden Sucht- und psychischen Erkrankungen hart getroffen. (Quelle: HZ v. 15.9.22/ KIM HORNICKEL)